Die Illusion des digitalen Gedächtnisses
- stephanwaltl
- 20. Okt.
- 3 Min. Lesezeit
Vor kurzem hat OpenAI auf deren Release Note Seite die Funktion des automatischen Memory Management vorgestellt. Das ganze ist meines Erachtens eine Lösung für ein Problem, das sie selbst geschaffen haben. "ChatGPT kann sich jetzt besser an das erinnern, was dir (bzw. mir) wichtig ist" – aber wer entscheidet eigentlich, was wichtig ist? Ein Algorithmus, der nach Aktualität und Häufigkeit filtert. Das ist ungefähr so, als würde mein Gehirn automatisch vergessen, dass ich ein Auto habe, nur weil ich eine Woche lang nicht über sie gechattet habt.
Schauen wir uns die Realität an: ChatGPT hat ein Speicherlimit. Anstatt dieses grundlegende technische Problem zu lösen, wird es jetzt "intelligent verwaltet". Das ist, als würde mir ein Autohersteller stolz verkünden, dass der zu kleine Tank jetzt "smart befüllt" wird – die unwichtigen Kilometer werden einfach aussortiert.
Was OpenAI hier als Innovation präsentiert, ist nichts anderes als eine digitale Triage. Der Bot entscheidet eigenständig, welche Informationen über mich in den Hintergrund rücken. Das mag bei meiner Lieblingsfarbe noch verschmerzbar sein, aber was ist mit beruflichen Kontexten? Mit persönlichen Präferenzen, die nur selten, aber dann umso wichtiger sind? Noch dazu wo ich oft in Seminaren in unterschiedlichen Branchen unterwegs bin. Werde ich plötzlich zum Baumeister oder Steuerberater, nur weil ich in letzter Zeit mehr darüber rede?
"Du hast immer die Kontrolle", verspricht OpenAI. Ja, man kann das Feature abschalten. Dann hab ich aber wieder das alte Problem mit dem vollen Speicher. man kann Memories priorisieren – wenn ich nur wüsste, welche gerade "im Hintergrund" verschwunden sind. Das ist ungefähr so viel Kontrolle, wie wenn dir jemand sagt, du könntest ja theoretisch alle deine E-Mails manuell sortieren, während Gmail bereits fleißig aussortiert hat.
Die Sortierung nach "newest" oder "oldest" ist dabei so revolutionär wie die Sortierfunktion in Excel von 1995. Und die Möglichkeit, frühere Versionen wiederherzustellen? Das klingt mehr nach einem Eingeständnis, dass das System Fehler macht, als nach einem Feature.
Mit all dem könnte ich vielleicht noch leben, denn ich kann die Funktion ja ausschalten. Aber was mich wirklich beunruhigt: Wir gewöhnen uns an Systeme, die für uns entscheiden, was wichtig ist. Heute ist es noch ChatGPT, das entscheidet, welche Information über mich relevant bleibt. Morgen treffen ähnliche Systeme vielleicht Entscheidungen über meine Gesundheitsdaten, meine Finanzen oder meine berufliche Entwicklung.

Die Kriterien "Aktualität" und "Häufigkeit" sind dabei besonders problematisch. Sie bevorzugen das Laute, das Repetitive, das Oberflächliche. Die leisen, aber wichtigen Details – die Nuancen, die uns als Individuen ausmachen – fallen durchs Raster.
Was wirklich nötig wäre!
Anstatt an Symptomen herumzudoktern, sollten die KI.BOT-Anbieter endlich die Grundprobleme angehen:
Transparenz: Zeig mir genau, was gespeichert wird, was priorisiert wird und warum
Unbegrenzter Speicher: Im Jahr 2025 sollte Speicherplatz für Text kein limitierender Faktor mehr sein
Nutzerbestimmte Kategorien: Lass mich selbst definieren, was wichtig ist – nicht nach Algorithmus-Logik
Echte Privatsphäre: Lokale Speicherung persönlicher Daten, nicht in der Cloud!
Das neue Memory Management von ChatGPT ist symptomatisch für die aktuelle KI-Entwicklung: Statt echte Probleme zu lösen, werden Workarounds als Features verkauft. Wir bekommen keine bessere KI, sondern eine, die eleganter mit ihren Limitierungen umgeht. Als Nutzer sollten wir kritisch hinterfragen: Wollen wir wirklich, dass Algorithmen entscheiden, was über uns erinnernswert ist? Oder ist es nicht an der Zeit, von den Tech-Giganten echte Lösungen einzufordern statt geschickt verpackter Kompromisse?
Die Ironie dabei: Während ChatGPT vergisst, was es über uns wissen sollte, vergessen wir langsam, was echte Innovation bedeutet.




Kommentare